Ungeschminkte Realität

Es geht wieder los. Wir sind zurück in den Sätteln. Von gefrorenen Zeltwänden, mitdenkenden Türken und alt bekannten Radreise Beschwerden.

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Der Start des zweiten Abschnitts unserer Fahrradreise steht an. Der Schnee ist geschmolzen und das Wetter bessert sich. Aufgrund der kühlen Temperaturen insbesondere Nachts entscheiden wir, mit dem Bus noch bis nach Izmir zu fahren. So sollten die Nächte mehrheitlich über dem Nullpunkt bleiben, darunter sind wir nicht ausgerüstet zum zelten. Die Türkei steckt im kältesten Winter seit Jahren, viele mögen sich nicht erinnern dass es jemals so kalt war. Nicht die besten Voraussetzungen für uns, aber hey, wir waren dabei beim kältesten Winter seit langem...

Wir schwingen uns auf die Sättel, noch ein "Startschuss-Foto Fahrradreise Teil II" vor den bekannten Moscheen in Istanbul und dann fahren wir zum Busbahnhof. Wie immer ist es kein Problem am Schalter ein Ticket zu ergattern, die Fahrräder gratis. Beim Beladen haben sie dann meistens weniger Freude, sind aber trotzdem hilfsbereit und schlussendlich passt es immer. Ab in den Süden. In Izmir angekommen ist es schon am Eindunkeln. Wir haben ein Hotelzimmer reserviert etwas ausserhalb und müssen noch durch die ganze Stadt fahren. Und dann passiert es. Irgendwo in den engen Gassen der Stadt in einem eher zwielichtigen Quartier wo man eher schnell durchfahren möchte, reisst Benis Kette. S******* rutscht es ihm heraus, und dieser Ausruf wird auf Deutsch erwidert. Ein hilfsbereiter Türkei führ uns zu seinem Haus in den Hinterhof, wo wir in Ruhe reparieren können mit seiner Unterstützung. Er warnt uns vor dieser Gegend und sagt, wir sollen besser zurück auf die Hauptstrasse. Wir bedanken uns herzlich und düsen schnellstmöglich auf die Hauptstrasse. Willkommen zurück im abenteuerlichen Leben der Fahrradreisenden.

Die Hilfsbereitschaft hier übertrifft alles, was wir bisher erlebt haben. Es wird uns nicht nur auf Nachfrage geholfen, sondern bereits vorausschauend mitgedacht. Z.B. wo wir unsere Fahrräder hinstellen können, es wird uns abgewunken, wenn wir auf Strassen sind die nicht mehr weiter gehen (Navi und Realität stimmen hier leider nicht immer mehr so genau, z.B. weil inzwischen eine Staumauer gebaut wurde usw.), wir erhalten Cay, dürfen gratis waschen, werden überall freundlich bedient usw. Bereits in den wenigen Wochen haben wir unglaublich viele Bekanntschaften gemacht auf ganz unterschiedliche Art und Weise.

Da die Nächte eher kühl sind, gönnen wir uns eher einmal eine Übernachtung in einer Unterkunft. Da kommt es schon vor, dass wir die einzigen sind in einem Hotel, da im Moment komplett Nebensaison ist. Trotzdem werden wir herzlich empfangen und erhalten ein ausgiebiges, frisches Frühstück. Auf Campingplätzen sind wir auch die einzigen. Auf dem einen zeigt uns der Besitzer stolz seine Lämmer und die 2 Monate alten Welpen tummeln sich um uns, die Küche wird unseretwegen geputzt und wir erhalten leckeres Essen, Cay, Dessert. Auf einem anderen Camping werden wir wieder versorgt mit Essen und Getränke, der Besitzer setzt sich zu uns für Plauderstunden und bietet uns dann ohne Aufpreis auch noch das noch nicht fertig gestellte Bungalow an. Wir können uns echt nicht beklagen.  Eine weitere Möglichkeit, die wir versuchen zu nutzen, ist Warmshowers. Das ist eine Plattform für Fahrradreisende, wo Personen ihr Zuhause als Übernachtungsplatz anbieten. So erhalten wir direkte Einblicke in die Häuser und den Alltag von Einheimischen, was sehr bereichernd ist. Mehr dazu später in einem separaten Blog.

Wir sind froh um diese Möglichkeiten, denn die ersten Nächte schrecken uns etwas ab. Es wird sehr kalt in der Nacht, so dass wir am Morgen unsere Zeltwand von einer dünnen Eisschicht befreien müssen. Nach dem Zusammenräumen suchen wir immer zuerst einen Platz, um uns ein bisschen aufzuwärmen und einen Cay zu trinken. Ja der Cay ist hier unser neuer Kaffee. Der türkische Kaffee schmeckt uns nicht sonderlich und Cay, den türkischen Tee, gibt es an jeder Ecke und fast umsonst. Zur Kälte kommt auch noch Regen, vorausschauend wie wir sind, haben wir uns aber in Istanbul noch Regenhosen gekauft, welche nun bereits erfolgreich getestet haben. Mehrheitlich scheint jedoch die Sonne, so dass die Tage für Radfahrer angenehm sind. Trotzdem kommen zu Beginn erste Zweifel auf, ob es wirklich eine gute Idee war, wieder auf die Fahrräder umzusteigen.

Nebst den wettertechnischen Herausforderungen treten die gleichen Beschwerden auf wie beim ersten Mal. Das Hinterteil muss sich gewöhnen, die Knie schmerzen, die Waden brennen, der Rücken macht zu schaffen. Wieso haben wir jemals aufgehört... Zum Glück wissen wir, dass es mit der Zeit leichter geht.

ABER es kommt auch die Freude zurück, die wir vom ersten Abschnitt kennen. Jeder Tag ein kleines oder grosses Abenteuer, spannende Begegnungen, schöne Orte, tägliche Sportration und viel Draussen sein, das haben wir vermisst. Wir übernachten an wunderschönen Stränden, einer davon der Patara Strand. Oberhalb der Dünen stellen wir unser Zelt und bleiben gleich zwei Nächte. Wir lernen ein deutsches Pärchen kennen, die mit ihrem Büsli unterwegs sind und mit ihnen verbringen wir die Abende am Feuer, kochen leckere Menus (viiiele Tomaten, da sie tonnenweise davon geschenkt bekommen haben) und geniessen die Gemeinschaft.

Auch auf der Strasse machen wir wieder spannende Begegnungen. Als Beispiel der 76 jährige Franzose, der seit vielen Jahren 9 Monate im Jahr auf Radreise ist und 3 Monate Zuhause. Er macht nun nicht mehr so lange Etappen wie früher (seine sind gleich lang wie unsere...). Schon eindrücklich. Oder die Plauderstunden während dem Mittagsrast irgendwo in einem Dorf auf dem Land mit einem alten Herr. Nur mit Google Translator ist überhaupt ein Austausch möglich, aber ihn scheints nicht zu stören.

So radeln wir weiter Tag für Tag, kämpfen uns die Berge hoch, sausen die Hügel runter, geniessen die Aussichten, essen neue spannende Gerichte, suchen Schlafplätze und sind bereit, das Unerwartet anzunehmen und stets das Beste daraus zu machen. Übrigens, während unseres Aufenthalts in der Schweiz haben wir uns noch Campingstühle gegönnt und sind super glücklich mit dem neuen Luxus, die die Stühle mit sich bringen.